Krankengeschichte
Chronik von Leonoras Erkrankung September 2000 – Juni 2001
Ungefähr einen Monat nach Leonoras 19. Geburtstag verspürt sie erste Beschwerden: Schmerzen in den Beinen beim Stehen und Gehen. Leonora absolviert gerade in den Osterferien 2000 ein Pflegepraktikum an einer Chirurgischen Station am Krankenhaus Hall. Anfang Mai, nach Wiederbeginn des Sommersemesters, stellt ein Facharzt für physikalische Medizin eine leichte Erkrankung des Ischiasnervs fest und verschreibt Gymnastik und einen Vitamin-B-Komplex. Die Schmerzen werden wieder besser, zeitweilig, z. B. während des Irland-Aufenthalts, verschwinden sie völlig. Und, obwohl Leonora ein anstrengendes Studium mit Bravour absolviert, hat sie keine weiteren großen Beschwerden. In den Sommerferien im Juli in Portugal und Madeira leidet Leonora zeitweilig unter Kopfschmerzattacken, beginnt aber trotzdem nach ihrer Rückkehr Anfang August mit nächtlichen Sitzwachen bei zum Teil terminal kranken Patienten im Krankenhaus Natters. Die Kopfschmerzen werden stärker, Leonora wird zunehmend blasser und dünner, die Beinschmerzen setzen wieder ein. Sie nimmt zusätzlich Stärkungs- und auch Schmerzmittel, aber führt sonst ein normales Leben. Bei einem Aufenthalt in Wien Ende August werden die Kopfschmerzen unerträglich, an der Migräne-Ambulanz am AKH Wien wird eine Neuritis der Kopfnerven diagnostiziert und Voltaren verordnet. Nach ihrer Rückkehr Anfang September kann sich Leonora nur mehr mit Mühe frei bewegen, Kopf- und Beinschmerzen kommen und gehen. Sie berichtet von beunruhigenden Träumen.
Am 8. September 2000 wird von der Internistin nach CT, Sonographie und Differentialblutbild ein vorläufiger Befund erhoben: Leicht erhöhte Blutsenkung, mehrere vorangegangene virale Infekte (Zytomegalie, Herpes, Barr-Eppstein-Virus) plus v. a. psychogene Schmerzstörung. Sie verschreibt ein Antibiotikum, Stärkungsmittel und ein muskelrelaxierendes Anxiolytikum und da sie, ebenso wie der Hausarzt, kurz vor Urlaubsantritt steht, empfiehlt sie, bei Weiterbestehen der Schmerzen nach Antibiotika-Einnahme, eine Aufnahme an der Neurologischen Ambulanz der Klinik Innsbruck, zur Durchführung einer eventuellen Rückenmarkspunktion.
Am 11. und 12. September nehmen Leonoras Beschwerden wieder zu, am 13. September fahren wir (Leonora, Marco Conci und Leonoras Mutter) ins Krankenhaus Trient, wo auf Initiative von Herrn Prim. Dr. Pedrazzoli alles für eine Rückenmarkspunktion mit anschließender stationärer internistischer Untersuchung vorbereitet wird, als Leonora sich plötzlich wieder beschwerdefrei fühlt und die Intervention daraufhin nicht durchgeführt wird. Das klinische Bild ist zu diffus und unauffällig für Internisten und Neurologin. Am nächsten Tag in Innsbruck sind Leonoras Schmerzen wieder da und sie wird von ihrer Mutter als Simulantin beszeichnet. Da sie sich selbst für neurotisch hält, bäckt sie einen Kuchen, um sich für das – wie es scheint unnötige – Drama zu entschuldigen.
Am Samstag , den 16. September geht Leonora mit starken Beinschmerzen in die Neurologische Ambulanz der Klinik Innsbruck und wird abgewiesen: der nächste verfügbare Termin sei der 2. Oktober. In der darauf folgenden Nacht ruft sie den Notarzt, welcher telefonisch die Einnahme von Magnesium empfiehlt. Ein namhafter deutscher Psychoanalytiker, dem Leonoras „Fall“ in einer Gruppen-Supervision vorgetragen wird, befindet am 17. 9. ferndiagnostisch auf adoleszente Krise aufgrund einer neuen Partnerschaft der Mutter. Er empfiehlt, die Angelegenheit so weit wie möglich zu ignorieren, eine psychogene Gangstörung sei die wahrscheinlichste Diagnose – ich fürchtete nämlich eine Gehirnhautentzündung, an der ihre portugiesische Tante gestorben war. Am 18. 9. kommt Leonoras lang erwartete ehemalige Gastfamilie aus Australien an, Leonora fährt mit dem Auto, putzt mit einer Freundin das Haus, kauft ein, schleppt die Einkäufe die Stufen hoch und kocht, unter starken Beinschmerzen, ein Essen für sechs Personen. Durch die Platzknappheit sind Leonora und ihre Mutter erstmals seit Monaten wieder im gleichen Zimmer: Nach einer schrecklichen, durchwachten Nacht erkenne ich, dass Leonora schwer krank ist und beschließe zu handeln. Obwohl auch die australischen Gasteltern – der Vater ist selbst Arzt – den Verdacht auf psychogene Schmerzstörung äußern, spricht am 19. 9. nach einer telefonischen Konsultation bei Dr. Kantner-Rumpelmaier von der Schmerz-Ambulanz der Klinik Innsbruck dieser das erlösende Wort: Eine stationäre Aufnahme an der Neurologischen Station sei unumgänglich, bevor eine Verdachtsdiagnose auf Somatisierungstörung u. a. gestellt werden könne. OA Dr. Oberbauer, stationsführender Arzt der Psychiatrie-Sonderstation, bot seine Hilfe an: Leonora könnte auf seiner Station alle nötigen neurologischen Untersuchungen durchführen lassen, insbesondere die nunmehr dringlich erscheinende Rückenmarkspunktion. Am gleichen Tag, dem 19. 9. 2000, wird also Leonora auf der Psychiatrischen Sonderstation aufgenommen, begleitet von der australischen Gastfamilie Dr. Barnett und ihrer Mutter. Sie hat eine Reihe von aufwendigen Untersuchungen zu absolvieren, bis am 20. 9. nachmittags die vorläufige Bagatell-Diagnose – verschleppte Sommerangina, verursacht durch hämolytische Streptokokken – mitgeteilt wird. Leonora, trotz schlimmer Kopf- und Gliederschmerzen hocherfreut, bereitet sich auf die baldige Entlassung vor.
Als ich eine Viertelstunde später die Klinik verlassen will, ruft mich Dr. Oberbauer zurück. Einige Minuten danach erfährt Leonora, dass sie wahrscheinlich Leukämie, Blutkrebs, hat.
Am nächsten Morgen wird sie an die Hämato-Onkologische Ambulanz überstellt, die Knochenmarkspunktion ergibt bei einer punctio sicca, dass sie an einer akuten Knochenmarks-Leukämie leidet, und de facto kein gesundes Knochenmark mehr vorhanden ist. Am Freitag, 22. September, wird sie an die Isolierstation der Hämatologie I an der Klinik Innsbruck übernommen. OA Dr. Gunsilius übernimmt die genaue Diagnosemitteilung: wurde ursprünglich noch von einer ALL – einer akuten lymphatischen Leukämie – gesprochen, so erhärtete sich nunmehr der Verdacht einer AML – M1, einer akuten myeloischen Leukämie mit geringgradiger Zelldifferenzierung, welche eine wesentlich ungünstigere Prognose aufweist. Leonora, obwohl geschockt und von schlimmen Schmerzen geplagt – nach der Rückenmarkspunktion wurde sie irrtümlich aufrecht ins Thorax-Röntgen gestellt, was zu weiteren furchtbaren Kopfschmerzen führte – interessiert sich für die wissenschaftliche Seite ihres Probelms, hatte sie doch gerade im Sommersemester 2000 von Translokationen und genetischen Aberrationen gelernt.
Im Zimmer 7 der Isolerstation an der Hämatologie entfaltet sich nun eine lebhafte Aktivität, zusätzlich zu den die Chemotherapie vorbereitenden Massnahmen. Viele Freunde kommen und zeigen ihre Unterstützung, der Verwaltungsdirektor regelmässig und auch der ärztliche Direktor bekunden den behandelnden Professoren Gastl und Petzer gegenüber ihr Interesse an der neuen Patientin. Das Zimmer füllt sich mit Fotos einer Himalaya-Expedition, mit anderen Bildern und unterstützenden Objekten bzw. Amuletten. Viele Familienangehörige und FreundInnen aus dem In- und Ausland melden sich telefonisch und schriftlich bei ihr selbst, bzw. bei ihrer Mutter, diese wird in den ersten Tagen von den Freunden wie von einer guten Familie gestützt.
Die aus Amerika zurückgekehrte Internistin Dr. Defregger engagiert sich sofort, italienische Ärztinnen, Dr. Villotti und Dr. Lona aus Trient, schalten sich ein, ebenso Prof. Schmalzl vom Krankenhaus Hall, der die Mutter, die noch die letzten 10 Tage ihrer Tätigkeit als psychoonkologische Therapeutin im Krankenhaus absolviert, offen über Risken und voraussichtliche Prognose einer chemotherapeutischen Behandlung aufklärt. Angesichtes der Schwere der Erkrankung sei eine Palliativbehandlung anstelle der hochaggressiven Chemotherapie ein sicheres Todesurteil innerhalb kürzester Zeit. Andere konsultierte Ärzte und die eilends studiere Fachliteratur bestätigen das Verdikt. Dr. Barnett, gerade aus dem Washingtoner Gynäkologen-Kongress im September 2000 zurückgekehrter Frauenarzt, diskutiert die Möglichkeit, Ovarialgewebe vor Beginn der Chemotherapie operativ zu entfernen, um die Fruchtbarkeit zu erhalten, Dr. Waitz-Penz und Prof. Mocayo beraten mit den Hämatologen im Vorfeld der Chemotherapie unterstützende hormonelle Massnahmen, eine Operation wird zum gegenwärtigen Zeitpunkt ausgeschlossen. Bei Diagnosemitteilung am 22. 9. 2000 hatte der Oberarzt Leonora und ihrer Mutter noch lapidar erklärt: „Die Eierstöcke sind sowieso voller Krebszellen, und, seien wir uns mal ehrlich, was hat denn so ein Kind von einer Mutter, die nach zwei Jahren stirbt?“
Am 25. 9. erstellen wir eine Liste aller Freunde und Familienangehörigen, die zu bestimmten Tagen Leonora besuchen und unterstützen wollen, für die Dauer ihrer Erkrankung. Vorbild ist ein Buch „Share the Care“, das aus der Krebserkrankung einer ehemaligen Freundin aus New York entstanden ist. Leonora erhält weiter Antibiotika und Schmerzmittel, sie will ihre Haare abschneiden lassen, damit sie daraus eine Perücke anfertigen lassen kann, ein Verwandter übernimmt die Kosten. Sie ist völlig gefasst und weint, wenn überhaupt, kaum in Gegenwart ihrer Besucher, um deren Gefühle zu schonen. Eine psychoonkologische und psychosoziale Begleitmaßnahme wird organisiert (Frau Oberhauser und Frau Schiessling). Montag, den 25. September erscheint zuerst ein tibetanischer Mönch aus einem Vorarlberger Kloster, danach kommt die Friseurin, und Leonoras lange blonde Haare werden geschnitten.
Am 26. 9. wird unter Lokalanästhesie ein zentraler Venenkatheter gelegt, viele Untersuchungen folgen noch, die abgesehen von der Grunderkrankung keine besondere pathologischen Werte zeigen. Die Chemotherapie soll nach dem sog. Standardverfahren durchgeführt werden. Zwei Induktionstherapien mit Alexan, Etoposid und Daunorubicin, eine Konsolidierungstherapie mit Alexan und eine Erhaltungstherapie mit Hochdosis-Zyklophosphamid und Busulfan. Die Chemotherapien sollen die Krebszellen im Blut vernichten, die weißen Blutkörperchen werden im Laufe der Therapien jeweils auf null absinken und Leonora wird somit über keinerlei natürliches Immunsystem mehr verfügen. Viren, Bakterien und Pilze können ihren Organismus überfluten, sie kann an begleitenden Infektionen sterben. Da sie keine Vollgeschwister hat, wird eine weltweite Suche nach einem Knochenmarksspender ausserdem vorgesehen.
Am 27. 9. beginnt die Chemotherapie. Leonora liegt im Zimmer 7, später in anderen Zimmern, 24 Stunden täglich an einem Infusionsständer mit bis zu fünf verschiedenen Substanzen, die in ihren am Herzen ansetzenden Venenkatheter führen, 10 Tage dauert die erste Chemo. Sie erhält zusätzlich Ciproxin, Amphomoronal, Amphotericin B, sowie Paspertin, Navoban und Largactil. Sie muss die Flüssigkeitsausfuhr messen, prophylaktische Mundhygiene betreiben, inhalieren, cremen, Atemübungen machen. Sie wird rund um die Uhr versorgt, infundiert, gepflegt, überwacht. Sie ist unglaublich tapfer und klagt nicht. Das routinemäßig verordnete Temesta lässt sie sofort absetzen, sie steht die gesamte fast neun Monate dauernde Behandlung ohne jegliche psychopharmakologische Begleittherapie durch, auch auf Einschlafhilfen verzichtet sie. In der Nacht vom 28. 9. auf 29. 9., rund eine Woche nach Diagnosemitteilung, wacht sie mit schrecklichen Rückenschmerzen auf und wird liegend notfallsmäßig um 5h früh ins Röntgen und CT gebracht: Sie hat im Schlaf einen Bandscheibenvorfall gehabt, es besteht ein Verdacht auf Blasenlähmung und eventuell eine durch die Leukämie verursachte Infiltration des Rückenmarks. Alles deutet auf eine Notoperation hin – nach 2 Tagen Chemotherapie und im Zustand einer hochakuten Erkrankung!
Am 29. 9. Nachmittag befundet Prof. Jaschke, Vorstand der Radiologie I, die Bilder neu und einen zusätzlich erhobenen MR-Film: Um 16 h erfolgt dann die erlösende Meldung: Operation nicht nötig, es sind auch keine Abszesse oder leukämische Infiltrate sichtbar. „Nur“ ein kompletter Diskusprolaps, der aber mit physikalischen und medikamentösen Maßnahmen stabilisiert werden kann! In der Folge neuerliche, diesmal proktologische Komplikationen mit ständigen Schmerzen, fast unstillbaren Blutungen und Verdauungsbeschwerden, ihre Leukozyten sinken, es beginnt das Fieber, verursacht durch eine Staphylokokken-Infektion. Ausserdem leidet Leonora an einer Virus-Überschwemmung. Sie erhält eine breite Antibiotika-Therapie mit Fortum, Vancomycin und Certomycin, ausserdem Zovirax-Infusionen. Die sogenannte „Aplasie“ – die Phase der kompletten Isolierung mit strikter Diätvorschrift um eine weitere Pilzinfektion zu vermeiden, dauert bis zum 20. Oktober: Jeder eintretende Besucher, ob Personal oder Privatperson, muss Gesichtsmaske tragen, sich die Hände desinfizieren und sich bei Infektionen fernhalten.
Langsam verändert sich Leonoras Aussehen, ihre Haut wird trocken, ihr Gesichtsausdruck verliert seine normale Weichheit, wirkt verängstigt und gezeichnet. Da sie 24 Stunden täglich infundiert wird und auch nachts alle zwei Stunden aufstehen muss, um die Flüssigkeitsausfuhr zu messen, ist sie oft sehr erschöpft und schläft viel. Sie kann nicht lesen und kaum fernsehen.
Am 2. Oktober war Leonoras Vater aus Lissabon gekommen, er bleibt bis Ende November in Innsbruck und verbringt viele Stunden täglich bei ihr. Die Zahl der anderen Besucher muss eingeschränkt werden, Leonora will nur mehr ihren engsten Kreis sehen. Nach der ersten Oktoberwoche werden ein chinesisch-tibetanischer Arzt in Deutschland, eine TCM-Einrichtung in einer saarländischen RHA-Klinik, eine tibetische Ärztin in Indien und tibetische Mönche in der Schweiz eingeschaltet, es wird eine supportive Begleittherapie durchgeführt. Die Internistin und die Psychoonkologin der Klinik üben Visualisierungstechniken mit Leonora, um ihr schwaches Abwehrsystem zu stärken. Leonoras ehemalige buddhistische Religionsgruppe und ihr Maturalehrer, Prof. Schromm, beten und meditieren für sie, auch Mönche des Klosters Letzehof, ebenso wie eine Meditationsgruppe eines Münchner Psychoanalytikers und viele FreundInnen aus dem näheren und fernem Umkreis. Als sich eine krankhafte Veränderung der Leber als Nebenwirkung der Chemotherapie einstellt, wird sie regelmäßig radiologisch überwacht. Eine Vergrößerung und therapieresistene Schädigung der Leber wird festgestellt.
Am 24. Oktober wird sie nach fünf Wochen Klinikaufenthalt erstmals entlassen. Leonora ist sehr schwach und bewegt sich mit Anstrengung, ihre Beinmuskulatur ist leicht atrophiert. Aber sie kann wieder normal essen, das bedeutet ihr viel. Sie trifft ihre Freunde, geht zu ihrer Tante, besucht mit ihrem Vater die Familie ihre Freundes, erfreut sich an der Natur, lässt sich von ihrer Mutter viel im Auto herumfahren und geniesst, so gut es geht, Natur und Freiheit.
Am 2. November soll sie wieder zurück in die Klinik. Ihre erste Knochenmarkspunktion nach der Chemo ergibt eine Reduktion von 100% Blasten auf 8 %, also eine partielle Remission. Die Werte unterhalb der 5%-Grenze gelten als tolerabel.
Am 6. November wird eine Leberbiopsie durchgeführt, die Leonora mit schlimmen Schmerzen und einem kleinen inneren Hämatom erdulden muss, noch Tage danach kann sie sich kaum rühren, von da an bis weit in den Monat Jänner hinein kann sie sich nicht völlig aufrichten, teilweise bewegt sie sich, an ihrem Infusionsständer hängend, nur mit zu einem rechten Winkel gebeugten Rücken. Die zweite Chemotherapie, von deren Erfolg nunmehr die gesamte Überlebensprognose abhängt, gestaltet sich zur Tortur: Einerseits nimmt die Leberschädigung galoppierende Ausmaße an, auch Milz und Niere sind geschädigt, andererseits zeichnet sich nunmehr erstmals eine Persönlichkeitsveränderung ab, Leonora scheint von einem schweren endopsychischen Durchgangssyndrom geschüttelt. In Gegenwart ihrer Mutter erlebt sie mehrerer Male pseudo-epileptoide Anfälle, die aber folgenlos vorübergehen und sie stabilisiert sich wieder. Leonoras Haut wird danach von einem rötlichen Exanthem gezeichnet, danach tritt ein akuter Ikterus ein und Leonora wird, z.T. aufgeschwemmt durch die Cortison-Gaben, am ganzen Körper und insbesondere im Gesicht, völlig gelb. Auch die Blutungsneigung beginnt wieder, ihre Haut trocknet aus, die strikten Diätvorschriften und die Ekelgefühle der Chemotherapie führen zu einer permanenten Appetitlosigkeit, Leonora erbricht ständig schwallartig dunkle Flüssigkeiten. Die antimykotische Therapie – vermutlich besteht bei der Leber- und Milzschädigung eine invasive Pilzinfektion – ist von Schüttelfrost begleitet, Leonora fällt bei der Morgentoilette mehrmals in der Dusche in Ohnmacht, stösst sich den Kopf und Körper an und wird zusehends schwächer. Das Fieber steigt und fällt, die Entzündungsparameter sind erschreckend hoch. Ihr ist, zusätzlich zu ihrem schrecklichen Leiden, auch jede Minute bewusst, in welchem lebensbedrohlichen Zustand sie sich befindet. Weder verleugnet und bagatellisiert sie die Gefahr, noch klagt und jammert sie. Sie kann an der Leukämie sterben, an der Chemotherapie, an den Nebenwirkungen der Anti-Pilztherapie, an Leber- oder an multiplem Organversagen. Sie macht einfach weiter, bleibt freundlich und höflich. Eine Harnwegsinfektion quält sie, Übelkeit , Bauch- und Kopfschmerzen. Aber dann wird für drei Wochen alles in den Schatten gestellt durch eine katastrophale Schädigung der inneren Schleimhäute, insbesondere der Mund- und Speiseröhrenschleimhaut: Ihre Mucositis führt dazu, dass sie 20 Tage lang weder essen noch trinken kann, obwohl sie hungrig und durstig wäre.
Das gesamte Pflegepersonal, allen voran Schwester Helene, bemühen sich rührend um sie, versuchen das Unmögliche, um ihr wenigstens Ananas-Eisstücke zu lutschen zu geben. Leonora braucht drei Wochen lang Vendal, ein starkes Opiat, an der Dauerschmerzpumpe, um ihre Schmerzen ertragen zu können: Gleichzeitig darf sie sich nicht zu hoch dosieren. Die Gefahr einer Abhängigkeit spielt zwar keine Rolle, aber eine zu große Sedierung mit einem Mophiumpräparat würde aufgrund der ständig liegenden Lebensweise die Gefahr einer Atemsupression und damit einer Lungenentzündung erhöhen. So dämmert Leonora vor sich hin, immer wieder unterbrochen von Schmerzattacken, sie leidet zeitweilig auch an Amnesien und Konzentrationsstörungen. Ihre Beine sind geschwollen, sie kann kaum stehen. Die Physiotherapeutin kommt täglich, massiert sie und atmet mit ihr. Das Einhalten der Mund- und Hauthygiene wird ebenso überlebenswichtig wie die Atemgymnastik und die Stimulierung der Körperperipherie, um dem Verlust der Körperwahrnehmung entgegenzuwirken.
Die tägliche Visite mit Prof. Petzer, OA Dr. Gunsilius, den Assistenzärzten Dr. Sudmeier und Dr. Spizzo, insbesondere die Chefvisite von Prof. Gastl am Mittwoch, gestaltet sich zu einer wissenschaftlichen und menschlichen Herausforderung an die behandelnden Ärzte, die sich mit KollegInnen aus dem In- und Ausland beraten. Eine vorübergehend diagnostizierte Pneumonie erweist sich als Fehldiagnose, dennoch hustet Leonora und verspürt Stiche in der Brust. Aszites (Wasseransammlungen im Bauchraum) steigen auf, ihr Körpergewicht schwankt aufgrund der zusätzlichen Wassereinlagerungen im Gewebe ständig, Es wird alles versucht und getan, was Leonoras Leiden lindern kann, dennoch scheint die Aussicht auf Besserung gering, die Nebenwirkungen der Chemotherapie müssen in Kauf genommen werden, sonst hat sie keine Chance…
Endlich, nach fast zwei Monaten, kann sie über die Weihnachtsfeiertage entlassen werden, die Aufnahme zur dritten Chemotherapie ist für den 2. Jänner geplant. Mittlerweile wurden ihre Eltern, ihre Halbgeschwister, ihre Tante und ihre beiden kleinen Cousins auf die Möglichkeit einer Knochenmarkspende hin getestet: Ohne Erfolg, wir hoffen weiter auf eine Fremdspenderin. Weihnachten verbringt Leonora allein mit ihrer Mutter am Achensee, das war ihr Wunsch. Sie kann zwar wieder essen und trinken, aber nach einer zweiten Leberbiopsie, und vielen anderen schmerzhaften Untersuchungen, kann sie nicht aufrecht stehen und geht langsam, schmerzgepeinigt. Auch die vielen Medikamente, die sie weiter nehmen muss, schaden zusätzlich ihrem Allgemeinbefinden. Linderung bringen ihr ihre Freunde, ihre Familie und vor allem, ihr eigener starker Wille, der manchmal unterstützt wird durch eine alterstypische Unbekümmertheit und Sturheit. Am ersten Tag ihrer Entlassung, dem 22. Dezember, besuchen wir die Cafeteria im Schloss Ambras, wo wir 9 Monate zuvor ihren 19. Geburtstag gefeiert hatten, abends schauen wir die José-Carreras-Gala im Fernsehen und hören erstmals gemeinsam von den von seiner Stiftung finanzierten Forschungs- und Transplantationseinrichtungen. Leonora muss jede Nacht mehrmals aufstehen, erbricht sich, krümmt sich in Schmerzen, kann die Füße beim Gehen kaum vom Boden heben. Zwischendurch freut sie sich über den Besuch ihrer Freunde aus dem Studium, aus der Schulzeit, über ihre Verwandten und den persönlichen oder elektronischen Kontakt mit anderen Personen aus dem professionellen und privaten Freundeskreis von Österreich, Portugal, nach Italien, Deutschland, Australien, den USA, bis nach Indien zu einer tibetischen Exilgemeinde in Kerala. Auch der Kontakt mit der Natur tut ihr gut, sie darf aber keinen Tieren nahe kommen, was sie sehr bedauert.
Am 27. Dezember löst eine Klangschalenmassage eine weitere Krise aus, Leonora erbricht schwallartig Gallenflüssigkeit, Prof. Schmalzl nimmt sie an der Internistischen Sonderstation des Krankenhauses Hall auf, konferiert mit den Kollegen von der Klinik. Es besteht zusätzlich noch der Verdacht auf eine Gallenblasenentzündung, es besteht ein subhepatischer Erguss. Ihr Zustand stabilisiert sich wieder, noch kennen wir aber nicht das Ergebnis der letzten Knochenmarksspunktion, endlich kommt es: Die zweite, so entsetzliche Chemotherapie, hat eine komplette Remission der Leukämie verursacht, die Leukämie ist – for the time being – besiegt. Auf Silvester hin wird sie entlassen, feiert mit anderen bei ihrer Freundin Christine, die sie seit Beginn der Erkrankung rührend betreut hat, die genauso wie ihre Kusine Lisa und ihre Freundin Lilli, immer wieder das Bett mit ihr geteilt hat, um ihr das Gefühl der Zugehörigkeit zu geben.
Am 2. Jänner 2001, als Leonora dann wieder an die Hämatologie kommen soll – der sie nunmehr direkt betreuende Arzt ist Dr. Spizzo aus Luxemburg – erfährt sie eine neuen Hiobsbotschaft: die Leberschädigung ist so weit fortgeschritten, dass eine dritte Chemotherapie – dies wäre eine weiter lebertoxische Konsolidierungstherapie – vorderhand nicht riskiert werden kann. Ein Knochenmarkspender ist nicht in Sicht, die Leukämie kann jederzeit wiederkommen, in einigen Wochen oder Monaten. Sollte ein Rezidiv im Intervall zwischen der 2. und der 3. Chemotherapie auftreten, sind Leonoras Heilungsschancen äußerst gering.
Leonoras Leben und alle, die darum kämpfen, befinden sich in einem Wettlauf gegen die Zeit.
Leonora ist nun zu Hause und wird täglich an die Hämatologische Ambulanz gebracht zur antimykotischen Infusionstherapie, außerdem erhält sie Kalium und ein Antibiotikum. Täglich wird ein Blutbild erhoben, die Armvenen sind schon völlig zerstochen, da die Subclavia wieder entfernt worden war. Ultraschall und CT ergeben aber immer wieder dasselbe Bild: Riesige sich ausbreitende Herde auf Leber und Milz, die offensichtlich auch lange nach Beendigung der 2. Chemotherapie noch jeglicher Behandlung trotzen.
Mehrere, ambulant durchgeführte Leberbiopsien – der untersuchende Arzt stößt in Lokalanästhesie direkt durch die Bauchdecke, um Gewebe aus der Leber zu entnehmen, wovor sich Leonora sehr fürchtet – führen zu keinem Ergebnis: Obwohl sich die Herde in den CT-Bildern deutlich abzeichnen, ist ihre Beschaffenheit im Biopsat nicht erkennbar, wodurch auch die gefährlich starke antimykotische Therapie möglicherweise nur Nebenwirkungen, aber keine Wirkungen produziert. Immer wieder wird Leonora ein neuer Aufnahmetermin mitgeteilt, bereitet sie sich innerlich auf die nächste Tour de Force vor, immer wieder wird sie nach Hause geschickt, weil ihre Leber zu kaputt ist, um eine neue Chemotherapie zu vertagen. Etwa folgendermaßen lauten die Arztberichte, die regelmäßig nach ein bis zwei Tagen Aufenthalt an der Hämatologie erstellt werden: Diagnose: c AML-M1, CD 19/CD 22(+), unauff. Karyogramm, ED 10/00, Z.n.Ind I (DCE), - PR; Ind II (DCE) – CR. Aktuelle: CR, Leber/Milzherde mit V. a Aspergillose HWI 2.) Z. n. renaler Retention 3.) Z. n. tox. Leberdystrophie
Da wir nun auf das Ende des Wintersemesters zugehen – Jänner bis Mitte Februar, unternehmen wir organisatorische Akrobatenakte, um alles unter einen Hut zu bringen: Leonora begleitet ihre Mutter nach ihrem täglichen Kliniktermin in die Praxis nach Hall und an die Universität nach Südtirol. Sie fährt viel mit dem Taxi, wird auch von ihren Studienkollegen herumkutschiert und über das Studium auf dem Laufenden gehalten. Die Tarockgruppe wird wieder aktiviert. Leonora wird oft bei ihren FreundInnen aufgenommen, verbringt manchmal auch die Nacht bei ihnen. Ein kurzes Wochenende verbringen wir am Gardasee und in Trient, um Sonne und Wärme zu tanken. Da Leonora in der Klinik schon seit Oktober eine eigene E-Mail-Adresse zugeteilt wurde, schreibt sie ihren Mail-Partnern in der ganzen Welt, insbesondere ihren australischen FreundInnen und ihrer Gastfamilie. Sie schreibt und telefoniert auch viel mit ihren Geschwistern in Portugal und mit ihrem tibetischen Patenbruder in Indien. Ihr Vater ruft zweimal täglich aus Lissabon an, viele Bekannte und Freunde aus dem In- und Ausland melden sich immer wieder via E-Mail und Telefon. Ein großes Unterstützungsnetz hat sich gebildet. Ihre Haare beginnen wieder zu wachsen, Leonora geht zunehmends ohne Perücke aus.
Trotz der täglichen Canossagänge an die Klinik erwachen ihre Lebensgeister wieder, sie will ausgehen, tanzen und eine junge Frau sein. Am 20. Jänner besucht sie erstmals wieder mit Clemens, einem Medizinerfreund, und uns eine Premiere das Tiroler Landestheaters, am 9. Februar taucht sie im Abendkleid und mit lila gefärbten Kurz-Haaren am Maturaball ihrer ehemaligen Schule auf und am 11. Februar sieht sie Schnitzlers „Reigen“ in einer deftigen Inszenierung im Haller Lobkowitzgebäude. Die Leber-Befunde sind noch immer vernichtend, ein Beginn der 3. Chemotherapie ist nicht in Sicht, Leonora soll einen operativen diagnostischen Eingriff an der Leber haben, als wir uns zum Einholen einer second opinion entschließen: Am 21. Februar, kurz nach der Beendigung der letzten Infusion fahren wir mit Laborbefunden, Arztbriefen und vielen CT-Bildern – das letzte CT-Bild, das weiter ausgedehnte Leber- und Milzherde zeigt, stammt vom 19. 2. – seit Krankheitsbeginn ausgerüstet, ans José-Carreras-Zentrum im Klinikum Großhadern in München. Dort hat Leonora die Gelegenheit, die verschiedenen Forschungseinrichtungen zu besichtigen, PD Doz. Dr. Dr. Haferlach (er ist Mediziner und Germanist, ein international renommierter deutscher Leukämieforscher) bestätigt die Innsbrucker Verdachtsdiagnose aufgrund der ihm vorliegenden Materialien und auch das bisher durchgeführte Procedere. Er bezeichnet Leonoras Risiko als „intermediär“, falls, wie er auch glaubt, die Leberherde wirklich durch einen Pilzbefall verursacht worden sind. Das Forschungslabor erweckt Leonoras größtes Interesse, sie will später auch einmal hämatologische Grundlagenforscherin werden, sie diskutiert „von gleich zu gleich“ mit dem Mann, er fachsimpelt mit ihr und zeigt uns die beeindruckenden Einrichtungen des Zentrums, insbesondere mit Wissen aus dem Gebiet der embryonalen Stammzellenforschung stattet er uns aus. Todmüde, aber mit deutlich gehobenen Lebensgeistern fahren wir am gleichen Tag zurück, da Leonora am nächsten Morgen, dem 22. 2. 2001 an der Transplantationseinrichtung der Innsbrucker Chirurgie aufgenommen wird. Es soll eine offene Leberbiopsie durchgeführt werden, dies war das Ergebnis eines internistisch-hepatologischen Konzils zwischen den Professoren Gastl, Vogel und einem extern zugezogenen deutschen Kollegen. Voruntersuchungen folgen, Prof. Petzer hat auch die operative Implantation eines Hickman-Katheters angeregt, damit Leonora durch das ständige Stechen nicht noch zusätzlich zermürbt wird.
Am 23. Februar morgens, nur knapp 36 Stunden nach unserem Münchner Intermezzo wird Leonora von Prof. Margreiter, der sie an seiner Station aufgenommen hat, operiert. Sie ist vorher ruhig und gefasst, plaudert mit den Schwestern und Pflegern. Erst nach drei Stunden ist die Operation beendet: Margreiter kommt schnaubend aus dem OP, tritt auf die draußen wartende Mutter zu und schimpft: „Da war ja alles thrombosiert, alles thrombosiert, den Hickman hätt i fast nicht einigebracht…“ und erklärt mir dann, wie kompliziert und fast aussichtslos die vorgesehene Implantierung des Katheters in die Vena subclavia gewesen war, wie er sich „abgemurkst“ hatte, die Leitung zu legen. Nach einer Weile gespannten Wartens erkundige ich mich nach der Leber und er sagt bloss lapidar, „die Leber hat nix“. Eine Ärztin vom Institut für Hygiene hat das Biopsat noch während des Eingriffs abgeholt und ins Labor zur weiteren Untersuchung gebracht, aber er, Margreiter, sei sich sicher, schon makroskopisch eine entlastende Diagnose abgeben zu können. Leonora bleibt noch fast den ganzen Tag im Aufwachraum, ein kurzer Besuch wird gestattet. Ihr geschundener Körper trägt nun auch ein 10 cm große Wunde an der rechten Seite, und eine Ein- und Austrittsstelle des Hickman-Katheters von der Schulter, unterhalb ihres „Fettgewebes“ zum linken Oberbauch, mit drei Schläuchen, die für die Aufnahme der nächsten Infusionen bereit sind. Sie hat die Narkose, die aufgrund der venösen Thrombosierungen dreimal so lang wie ursprünglich vorgesehen war, gut überstanden und hat nicht zu viele Schmerzen. Am nächsten Tag, Samstag 24. 2. stellt sich bei einem Gespräch mit Prof. Margreiter heraus, daß keine histologische Untersuchung des entnommenen Leberbiopsats vorgesehen war, alles sei an die Hygiene gegangen, ihm sei von einer vorgesehenen Abklärung, ob es sich bei den Leberherden nicht doch um eine leukämische Absiedelung handeln könnte, nichts bekannt gegeben worden. Das ganze Biopsat sei am Institut für Hygiene, er wisse nicht, ob sich überhaupt irgendwo noch eine Gewebeprobe finde lasse, die zur Untersuchung am Institut für Pathologie geeignet sei. Die Ärzte aus dem Freundeskreis, die schon vorher kontaktiert worden waren, um die Untersuchung an der Pathologie zu beschleunigen – es war schließlich Wochenende – wurden verständigt, das Zittern begann von neuem.
Am 24. 2. hatte gleichzeitig auch der Internationale AML-Kongress im Klinikum Großhadern begonnen, am 25. 2. abends fuhr ich nach München zurück. Drei Tag lang, während des Münchner Karnevals, versuchte ich die weltweit neuesten Forschungsansätze auf dem Gebiet der Akuten Myeloischen Leukämie zu verstehen, während Leonora weiter an der Innsbrucker Chirurgie stationär blieb und vor dem Ergebnis ihres operativen Eingriffs zittern musste. Aus den Vorträgen und Diskussionen entnahm ich, wie wenig Hoffnung auch international bez. der Heilung der AML nach wie vor bestand und besteht. Die Psychoonkologin des Knochenmarkstransplantationszentrum, eine österreichische Internistin und Psychologin, riet angesichts der katastrophalen medizinischen Vorgeschichte Leonoras zu einer bloßen Palliativtherapie mit Bluttransfusionen, dann habe sie vielleicht noch ein gutes Jahr zu leben. Sie selbst würde sich einer solchen Tortur (Chemotherapie plus Transplantation) nie unterziehen, die meisten Patienten würden ohnehin sterben, auch mein langjähriger Supervisor, Edmund Frühmann, 1. 10. 2014, selbst jahrelang an einer Salzburger Hämatologie-Abteilung tätig, erklärte von sich dasselbe. Mittlerweile wurde an der Pathologie der Innsbrucker Klinik – vermutlich auf persönliche Initiative von Dr. Spizzo – doch ein Biopsat aus Leonoras Leber untersucht, aber der Befund zog sich in die Länge.
Am 1. März wird Leonora entlassen, sie nennt den Katheter „Hicky“, versorgt Ihre frischen Wunden selbst und lässt ihre drei Schläuche kess unter dem Pullover hervorlugen. Es gibt noch immer keinen histologischen Befund, es konnten keine Pilze gezüchtet werden, es scheint auch nach der OP alles beim Alten.
Am 5. März wird Leonora erneut knochenmarkspunktiert, der Wettlauf mit der Zeit ist – noch immer – gewonnen, die Leukämie ist trotz des nunmehr über zwei Monate währenden therapeutischen Zwangsintervalls nicht zurückgekehrt. Am Dienstag, 6. März, kommt dann das Wunder: Die Leberherde „unklarer Ätiologie“, welche am 19. Februar noch riesig waren und am 23. Februar von Prof. Margreiter intraoperativ nicht gesehen wurden, waren auch im Ultraschall und CT wirklich deutlich reduziert. Alle insgeheim geäußerten Verdachtsmomente – es könnten z. B. nicht die richtigen Stellen aus den Leberherden entnommen worden sein etc. – stellten sich als falsch heraus. Prof. Margreiter hatte recht mit seiner nur mit dem bloßen Auge durchgeführten Diagnose.
Das Wunder, auf das wir alle gehofft hatten, war eingetreten: Waren am Montag die Leber- und Milzherde trotz monatelanger Ambisome-Therapie noch „ausgedehnt und progredient“ gewesen, hatte am Mittwoch Doz. Haferlach vom Klinikum Großhadern aufgrund der ihm vorgelegten CT-Bilder noch die gleiche Diagnose vom Pilzbefall der Leber gestellt, so waren dieselben Herde, die seit November 2000 bestanden hatten, am Freitag der gleichen Woche ohne ersichtlichen Grund weitgehend verschwunden: Spontanremission.
Während wir noch verzweifelt beim AML-Kongreß in München saßen und ich mir von ForscherInnen aus Deutschland, Holland, Italien, den USA und Israel Informationen für eine rescue-therapy einzuholen versuchte, hatten sich Leonoras Leber und Milz von selbst erholt, der Weg für die dritte Chemotherapie war frei.
Am 7. März wurden wir zu einem großen Konzil aller beteiligten Ärzte bestellt: Prof. Petzer, Prof. Nachbauer, OA Dr. Gunsilius teilten uns mit, dass kein Knochenmarksspender gefunden wurde, aber aufgrund von Leonoras vorderhand konsolidierter internistischer Situation nunmehr der Weg frei sei für zwei weitere Chemotherapien mit anschließender autologer Stammzellentransplantation. Wir luden für Sonntag, 11. März, Leonoras 20. Geburtstag, spontan Freunde und Angehörige zu einem Geburtstagstreffen am Achensee, um ihr Kraft und Unterstützung für die folgenden Therapien zu geben. Es kamen 35 Personen.
Am 13. März wurde sie dann wieder an der Hämatologie aufgenommen, am 14. 3. begann eine Alexan-Hochdosis-Chemotherapie, die 6 Tage, bis zum 19. 3. dauerte.
Am 16. / 17. 3. findet an der Klinik eine Tagung zur Krebs-Nachsorge statt, das geplante Rehabilitationszentrum der TILAK in Natters wird präsentiert, in- und ausländische Experten, darunter Prof. Gastl und Prof. Söllner diskutieren verschiedene Rehabilitationsmodelle, auch der Verwaltungsdirektor Laimböck, dem Leonora viel verdankt, ist anwesend. Leonora nimmt am ersten Tag, obwohl bereits am 3. Tag der Chemotherapie, noch teil, ab dem 18. 3. ist sie isoliert, die Aplasie dauert vom 19. 3. bis 6. 4. 2001. Diesmal sind die Nebenwirkungen der Chemo wesentlich geringer als bei den ersten beiden Serien: Leonora bekommt zwar eine schlimme Sinusitis, einen Infekt der oberen Atemwege mit Bronchitis und ein Arzneimittelexanthem, was zum Wechsel der antibiotischen Begleittherapie (Fortum, Vanco, Vibromycin) führt, aber ihre Schmerzen sind lange nicht so schlimm wie beim ersten Mal, auch Essen und Trinken funktionieren viel besser. Sie lässt sich regelmäßig das Essen, nach Vorschrift gekocht, von außerhalb bringen, macht die unterstützenden prophylaktischen Begleitmaßnahmen wie Mund- und Atemhygiene, lässt sich massieren. Ihre Füße und Hände färben sich rot und schmerzen bei Berührung, aber nach zehn Tagen normalisiert die Haut sich wieder. Vor allem: Leber und Milz scheinen das neue Gift zu tolerieren, warum, weiß niemand. Es wird weiterhin auch Ambisome gegeben, ein teures antimykotisches Medikament. Die Behandlungskosten wären schon ins Unermessliche gestiegen, hätten wir nicht ein gutes Sozialversicherungssystem in Österreich und wären wir nicht versichert. Diesmal steckt sie ihre Mutter, die bis dahin als einzige seit Krankheitsbeginn im September allen Infektionsgefahren getrotzt hatte, mit einer staken Erkältung an und muss während der Aplasie einige Tage auf ihre Besuche verzichten. Leonora leidet an Magenbeschwerden und Bauchschmerzen, am 29. 3. beginnt das Fieber.
Am Sonntag, den 1. April muss Leonora sich wieder häufig schwallartig erbrechen, das Fieber steigt, ich entschließe mich zu einem Besuch trotz des Infektionsrisikos. Einen Tag später ist das Fieber gefallen, die Leukozyten steigen wieder, mobilisiert durch Neuprogen-Injektionen zweimal täglich, „Leuko-Party“ wird es auf der Hämatologischen Station genannt. Es geht Leonora insgesamt wieder gut. Sie verlässt die Station am 7. April erstmals.
Am Montag, den 9. April wird an der Blutbank der Klinik ein sensationelles Blutbild erstellt: Gefördert durch die vorangegangen Injektionen sind Leonoras Leukozyten auf über 25000 angestiegen, und es können vermutlich ausreichend Stammzellen gesammelt werden. Aufgrund des Münchner AML-Kongresses und des Schnellstudiums der begleitenden Fachliteratur waren wir mit dem Begriff „harvest“ bezüglich der Stammzellengewinnung bestens vertraut und tatsächlich war uns, insbesondere natürlich Leonora, nach all dem Leiden nach einer „Ernte“ zumute. Der deutsche Terminus „Stammzellengewinnung“ oder „Sammeln“ von Stammzellen entsprach nicht dem Gefühl der „Ernte“ – harvest. Am 9. und 10. April verbringt Leonora jeweils fast fünf Stunden an einer Maschine an der Blutbank, wo ihr über den Hickman-Katheter oberhalb ihres Herzens ihr gesamtes Blut entnommen, in der Maschine zentrifugiert, die Stammzellen herausgefiltert und sodann über eine zweite Leitung wieder zugeführt wird. Sie übersteht die Prozedur ohne besondere Problem, unterhält sich freundlich mit dem Personal, das ganz besonders lieb ist. Im Arztbericht wird diese Prozedur lapidar formuliert mit den Worten:
SZ-Apherese am 9. 4. und 10. 4.: ausreichend CD 34 und Z. gesammelt Die Stammzellen werden sofort eingefroren, sie sollen bis zum Ende der 4. Chemotherapie gefroren bleiben.
Am 11. April, einen Tag danach, wird sie entlassen, wir fahren ins Ganzheitsmedizinische Zentrum in Igls, um eine Rehabilitation nach dem Ende der Chemotherapie zu vereinbaren. Als wir nach Hause fahren, teilt mir Leonora mit, dass sie am 14. April, dem Tag meines Geburtstags, in die Toskana fahren möchte und zwar allein mit dem Zug und in Florenz – am Karsamstag – einen Freund treffen und mit ihm und seiner Familie einen österlichen Urlaub im Raum Florenz – Siena – Pisa – Lucca – Montecatini verbringen wolle. Für mich habe sie als Geschenk einen Kuraufenthalt im Burgenland vorgesehen. Und so geschah es. Wir verbrachten Ostern folgendermaßen verteilt: Leonora in Pisa, dem Ort, an dem ihr Vater und ich ihren Namen gewählt hatten, Manuel in Lissabon und ich in Bad Tatzmannsdorf auf Kur, die mir Leonora geschenkt hatte. Nach ihrer Rückkehr aus der Toskana beginnt Leonora, wieder das „normale“ Leben zu erproben: Sie bleibt manchmal allein in ihrer Wohnung, kauft ein, kocht, besucht Freunde und Kollegen in der Umgebung, kümmert sich um Rechnungen, Reparaturen, Bankangelegenheiten. Das tägliche Leben und dessen konkrete Anforderungen werden zu einem kostbaren Schatz für uns alle. Der Alltag gibt Leonora einen festen Rahmen. Sie geht aus, ins Restaurant, ins Kaffeehaus, in Geschäfte, bummelt durch die Gegend, ist immer in Aktion, sie ist voller Optimismus und Lebensfreude, kann alles essen, was ihr schmeckt, verlangt wieder nach ihrem Lieblingsessen, suhlt sich in einer Atmosphäre von Behaglichkeit. Sie fährt selbst mit dem Auto, macht Besuche, Einkäufe und Erledigungen. Gleichzeitig erwachen ihre Interessen für die Außenwelt wieder, sie liest politische Artikel, denkt immer wieder über die wissenschaftliche Logik ihre Therapie nach. Dr. Spizzo bleibt auch ihr geistiger Gesprächspartner ausserhalb der Klinik. Es taucht die Idee auf, zum Ende der gesamten Therapie auf Schloss Ambras ein kleines Fest zu veranstalten.
Am 25. April wird Leonoras Vater wiederkommen. Für den 23. April ist Leonoras Wiederaufnahme zur 4. Chemotherapie vorgesehen, es ist kein Bett mehr frei. Wieder anfängliche Untersuchungen, wieder stundelange Wartezeiten auf der Station, nüchtern, im Bett liegend oder auf einem Rollstuhl sitzend. Danach das Gerolltwerden durch die unterirdischen Gänge der Klinik, das Warten in den Ärztezimmern der verschiedenen Klinikabteilungen. Leonora kennt mittlerweile fast alle Abteilungen und diagnostischen Einrichtungen der Innsbruck Universitätsklinik. „Ich bin hier daheim“, sagt sie. Wenn sie mit dem Auto zu ambulanten Untersuchungen oder Therapien gebracht wird, werden wir meist einfach durchgewinkt, die Pförtner kennen uns. Im Ganzheitsmedizinischen Zentrum Igls wird die geplante Behandlung zur Unterstützung der Chemotherapie eingeleitet, Leonora entwirft und verschickt die Einladungen zu dem Fest. Nun kommt es zum letzten Aufenthalt: Nach dem Ende der 4. Chemotherapie sollen Leonoras eigene Stammzellen injiziert – „transplantiert“ – werden, wenn sie anwachsen, hat Leonora eine große Heilungschance, wenn nicht, dann müsste Leonora bis zu einem halben Jahr im Isolationszimmer in Aplasie liegen, ihr Knochenmark würde sich aus eigener Kraft vielleicht nie mehr ganz nachbilden können. Als Leonora die Nacht vom 23. auf den 24. April am Achensee verbringen muss, hat sie plötzlich Angst vor dem Klinikaufenthalt, Angst vor dem Scheitern. Am 24. geht sie dann aber tapfer in die Klinik, am 25. 4. kommt ihr Vater.
Am 26. 4. wird ihnen mitgeteilt, dass sich nunmehr doch eine Möglichkeit einer allogenen Knochenmarkstransplantation abzeichnen würde, eine neuerliche Überprüfung habe ergeben, dass eine junge Frau als Spenderin infrage käme. Eine vierte Chemotherapie sei also überflüssig, Leonora solle sich jetzt auf eine baldige Entlassung mit einer nachfolgenden Vorbereitung auf Ganzköperbestrahlung und der anschliessenden Knochenmarkstransplantation einstellen. Ich verständige Gabi Schiessling, um Hilfe zu erhalten. Leonora ist völlig verzweifelt, sie will zuerst die geplante Änderung der Therapie nicht akzeptieren, nach vielen Gesprächen und Telefonaten willigt sie ein. Es wird ihr von allen Seiten gesagt, dass sie durch eine Knochenmarkstransplantation eine viel größere Heilungschance hätte, das Immunsystem der Spenderin wird die Leukämie für immer besiegen. Der übliche Terminus dafür lautet „Chimäre", nach dem etruskischen Wahrzeichen von Florenz: einem Fabeltier, das sich aus mehreren Wesen zusammensetzt. Auf ihre direkte Frage erfährt sie erstmals, das sie wahrscheinlich unfruchtbar geworden ist, die Ganzkörperbestrahlung würde daran nicht viel ändern, auch die 4. Chemotherapie würde sie jedenfalls unfruchtbar machen. Wieder wird die Hormonexpertin Prof. Mocayo kontaktier, die Möglichkeit einer späteren Implantation einer befruchteten Eizelle taucht auf, in den USA oder Großbritannien könnte das gemacht werden. Wir diskutieren auch die Möglichkeit einer Adoption. Leonora ist nunmehr völlig auf die Frage der Mutterschaft konzentriert, spricht viel mit ihrer Mitpatientin darüber, die auch für die Transplantation vorgesehen ist. Die Einladung für das Fest ist hinfällig, alle Sommer- und Studienpläne müssen geändert werden, wir studieren Informationsbroschüren über die Nachsorge bei Transplantationen.
Am 27. 4., dem Tag darauf, ergibt sich ein neues Problem: Die Spenderin ist CMV-negativ (Zytomegalie-Virus, der Erreger des Pfeiffer’schen Drüsenfiebers), Leonora hingegen CMV-positiv, sie erkrankte in ihrem 2. Lebensjahr an Mononucleosis. Es bestünde die Gefahr einer Überschwemmung mit den aktivierten CMV-Viren, die durch die bei der Knochenmarkstransplantation notwendigen Immunsuppressiva hervorgerufen würden. Leonoras Blut wird neuerlich getestet. Am 28. 4. steht dann die Perspektive fest: Die Spenderin kommt nicht in Frage, denn, um die erwartete Abstoßungsreaktion des Körpers zu vermeiden, müssten starke Immunsuppressiva verabreicht werden, es bestünde Lebensgefahr nach der Transplantation und die Wahrscheinlichkeit einer lebenslangen graft-versus-host-reaction mit der Lebensqualität einer Aids-Patientin.
Am 30. April teilt sie ihrer Mutter telefonisch mit, dass sie eben vom Medizinischen Dekanat zurückkomme, wo sie sich für das Biologie-Rigorosum am 18. Juni angemeldet habe. Es wird nun doch das zuerst geplante Procedere durchgeführt, am 2. Mai wird sie wiederum an der Hämatologie aufgenommen, die Erhaltungschemotherapie mit Zyklophosphamid und Busulfan soll beginnen, die vorbereitenden Untersuchungen werden durchgeführt, der letzte Turnus hebt an. Ihr Vater reist wieder ab. Leonora verträgt vorderhand die Chemotherapie ausgezeichnet, sie kann essen und sich in ihrem Zimmer frei verhalten, auch lesen und fernsehen, telefonieren und sprechen wie immer. Sie ist bester Laune, witzelt mit den Besuchern, ihre gute Laune wir in 2 bis 3 Tagen fast manisch, sie zeigt wieder eine leichte Persönlichkeitsveränderung. Leonora ist zwar immer noch voller Energie, aber gelegentlich laut und fordernd mit dem Pflegepersonal, mit den Besuchen, mit ihrer Mutter insbesondere. Dieses Verhalten ist auf ein antiepileptisches Medikament zurückzuführen, das zur Prävention eventueller epileptischer Anfälle unter der Chemotherapie gegeben wird. Leonora war auf diese Nebenwirkung nicht vorbereitet und war auch nicht gewarnt worden, sie wurde nun von einer Woge von Entfremdungsgefühlen überschwemmt. Sie begann zu fiebern und über schlimme Mundschmerzen zu klagen, am Samstag, dem 5. Mai bot sie plötzlich innerhalb von einigen Minuten das gesamte Bild des Jammers der zweiten Chemotherapie, ihre Kopfhaut wurde dunkelrot. Die psychoaktiven Medikamente bewirkten eine Mobilisierung des Körpergedächtnisses, die Qualen der schrecklichen Zeit im Mai taten ein Übriges, die Erinnerung an den Folterwinter 2000/2001 zu evozieren. Am Samstag, dem 5. Mai, gibt ihr ein Wochenendarzt, der Leonora nicht kannte, die Schmerzpumpe mit Vendal – dem Opiat der 2. Chemotherapie – als Infusion, sie hängt wieder am Kaliumperfusor, die Schläuche führen zu ihrem Herzen, das Gift schädigt die Niere, ihre Füße schwellen an. Der Arzt lässt sich nicht überzeugen, das Antieleptikum abzusetzen, stattdessen verändert das Morphium, das er zu schnell verordnet, Leonoras Persönlichkeit noch mehr, sie verliert den Kontakt mit sich, alles scheint sich zu wiederholen, obwohl die wie immer täglich frühmorgens erhobenen Blutbefunde diese Befürchtung nicht bestätigen.
Die letzte Krise dauert 48 Stunden, mit zwei schlimmen Nächten, mit erstem Fieber und Schmerzen beim Schlucken, aber als am Montag, dem 7. Mai, der regelmäßige Stationsbetrieb wieder aufgenommen wird, wird das antiepileptische Medikament abgesetzt, die Vendal-Pumpe entfernt, der Perfusor beiseite geschoben, und Leonora erholt sich innerhalb von Stunden. Am 8. Mai um 14h wird dann die autologe Stammzellentransplantation vorgenommen: Leonora wird an den Monitor zur Überwachung der Herzfrequenz angeschlossen, Sauerstoff steht bereit, Studenten und Pflegepersonal sind anwesend, als Prof. Petzer die zwei Injektionsspritzen mit Leonoras aufgetauten Stammzellen rückinjiziert, direkt in den Hickam-Venenkatheter hinein. Die beiden Spritzen sehen aus wie Klistiere, die darin enthaltene lebensrettende Flüssigkeit ist rosarot. Leonora verspürt ein prickelndes Gefühl wie bei einer Kontrastmitteluntersuchung, nach kurzer Zeit ist es überstanden, ihr Körper hat die Aufnahme gut toleriert, eine eigentliche Abstoßungsreaktion war natürlich nicht zu erwarten. Die ASCT – autologe Stammzellentransplantation – war durchgeführt, jetzt galt es zu sehen, ob die Zellen auch den Weg finden und neues Knochenmark bilden würden. Am Abend schreibe ich via E-Mail einen Brief an einen ehemaligen Leukämie-Patienten, Sebastian, der auch mit 19 Jahren erkrankt, in Deutschland und später an einer amerikanischen Krebs-Klinik in Minnesota behandelt worden war und von dessen scheinbar so ermutigendem Schicksal ich Leonora erzählt hatte. Am nächsten Tag antwortet Sebastians Vater und teilt mir mit, dass sein Sohn schon vor Monaten gestorben sei, gibt aber einen Bericht seiner Frau über den Gang von Sebastians Krankheit und nennt den Namen mehrerer Forschungseinrichtungen in den USA, Israel und Italien, die nicht am AML-Kongress in München vertreten gewesen waren. Als ich am 9. Mai die Klinik in Roseville kontaktiere, sehe ich das Bild des Dalai Lama im Internet, der gerade zu dieser Zeit dort einen Vortrag hält. Leonora nimmt über ihren Laptop in der Klinik Kontakt mit diesen und anderen Forschungsstellen, insbesondere mit dem Weizmann-Institut in Israel auf, bereitet sich vor auf ein späteres Studiensemester in der israelischen Wüste nach Beendigung der Vorklinik. Finanzielle Fragen stellen sich. Nun aber sinken die Leukozyten gegen null, alle Haare sind Leonora wieder ausgefallen, es besteht wieder hohe Infektionsgefahr. Leonora befindet sich wieder im Zimmer 7, dem Einzelzimmer, von dem aus sie ihren Leidensweg begonnen hatte. Sie beginnt mit dem Studium der Biologie, leidet aber an Konzentrationsstörungen, die sie entmutigen. Die Besucher kommen nunmehr nicht so häufig wie früher, es hat auch viele Änderungen das Zeitplans gegeben, sodass nicht alle Personen rechtzeitig informiert werden konnten. Stolz verbeißt Leonora ihr starkes Verlangen nach Kontakt, will ihre Bedürftigkeit den FreundInnen gegenüber nicht zugeben. Sie sieht aber fern, lernt zwischendurch. Wie am Anfang war der Besucherkreis wieder auf wenige Treue beschränkt worden. Dabei tut Unterstützung nunmehr besonders not, denn von dem Verhalten der injizierten Stammzellen hängt Leonoras Zukunft ab…. Sie hat einen guten Freund in Dr. Spizzo, mit dem sie sich lange Zeit über alle möglichen Perspektiven des Lebens und Lernens unterhält, er ist ihr ein starker Halt in diesen Wochen zwischen dem 8. Mai und dem 25. Mai. Zwischendurch fiebert Leonora auf fast 40 Grad: Eine Aktivierung des CMV-Virus hatte nun zum Schluss doch noch die schon während der ersten und zweiten Chemotherapie so gefürchtete Pneumonie ausgelöst. Leonora leidet an Lungenentzündung, sie hat ihre prophylaktische Atemgymnastik auch etwas vernachlässigt, das antiepileptische Medikament und die verfrühte Morphiumgabe vom vorvergangen Wochenende, hatten, zusammen mit dem Kontaktmangel, ihre psychische Widerstandkraft unterminiert.
Am Montag, 21. Mai, dann die erlösende Mitteilung: die weißen Blutkörperchen steigen wieder, zuerst auf 400, dann am nächsten Tag springen sie auf 2400, am übernächsten bereits auf 8000. Am Mittwoch, den 23. Mai, teilt Prof. Gastl das Ergebnis mit: „Die Stammzellen sind phantastisch angewachsen“, Leonora darf sich auf ihre baldige Entlassung vorbereiten. Zu Christi Himmelfahrt, 24. Mai, machen wir mit Leonora einen ersten Ausflug: Sie ist strahlender Laune, ihre Mutter fällt postwendend in eine mittlere „postpartum“-Depression, was Leonoras Stimmung wieder dämpft: Abends hält sie ihr eine kurze Predigt und teilt ihr mit, dass sie nunmehr ihr Leben wieder ganz allein in die Hand zu nehmen gedenke, die Zeit der zweiten Symbiose sei vorbei. Ich akzeptiere. 24. auf 25. Mai verbringt sie die letzte Nacht in der Klinik. Am Freitag, den 25. Mai wird sie entlassen, aufgrund des phantastischen Ergebnisses bei der Stammzellentransplantation ist eine tägliche Kontrolle an der Hämotologie-Ambulanz vorderhand nicht geplant. Leonora kann ein normales Leben führen, sie soll große Menschenansammlungen meiden, drei Monate noch darf sie mit Tieren, insbesondere mit Katzen, nicht in Berührung kommen. Sie muss auf eine geplante Tibet-Reise verzichten, auch ihre Meerschweinchen in Innsbruck und ihr Pferd in Sintra müssen warten. Von nun an lässt Leonora es sich gut gehen, sie plant einen Autokauf, genießt das Leben. Sie geht wieder ins Theater, sitzt im Café, trifft Bekannte, lernt mit Freunden und tanzt in der Disco. Sie führt nach der langen Hospitalisierung ein intensives Leben, versucht, das Versäumte nachzuholen. Ihr Sommer hat begonnen, sie will baden und schwimmen gehen können, sich im Kleid sehen lassen, ohne dass 3 Schläuche aus ihrem Körper heraus stehen: sie will sich, den schwachen Warnungen der Ärzte zum Trotz, den implantierten Hickman-Katheter wieder herausoperieren lassen. Am Freitag, den 1. Juni lässt sie sich an der Abteilung für Kinderchirurgie bei Prof. Hager aufnehmen, und obwohl eine Explantation eines solchen Katheters zumeist in Vollnarkose durchgeführt wird, entscheidet sie sich für eine Lokalanästhesie: sie will am Abend wieder tanzen gehen und das traut sie sich nicht nach einem Eingriff in Vollnarkose zu. Wieder ist sie ganz ruhig, spricht mit der Schwester, erkundigt sich nach allem. Sie muss nicht lange warten, ich stehe wieder in der Schleuse vor dem OP wie am 23. Februar. Als sie nach einer guten Stunde herausgebracht wird, ist alles gut gegangen, sie hat ihren „Hicky“ zusammengerollt in einem Glas bei sich. Bei der nachfolgenden Visite von Prof. Hager im Zimmer erklärt er noch den Verlauf der Operation und die – nunmehr vergangenen – möglichen Risken einer Hickman-Implantation: Prof. Margreiter habe aufgrund der Komplikationen durch thrombosierte Gefäße die Spitze des Katheters ganz nahe zum Herzen, bis zum Beginn des Vorhofs einführen müssen, aus diesem Grunde habe zwar die Gefahr des Verrutschens des Katheters weniger bestanden, aber aufgrund der Herznähe eine größere Verletzungsgefahr. Als ihm mitgeteilt wird, dass Leonora häufig tanzen gegangen war, vermag er das nicht zu glauben.
Gegen Abend schlüpft Leonora aus ihrem Operationsnachthemd, kleidet sich um und beginnt mit den Vorbereitungen auf den Freitagabend. Das Pfingstwochenende verbringt sie allein in ihrer Wohnung mit Studium, Putzen und Kochen. Ihr neues Leben hat nunmehr ganz begonnen. Sie nimmt ihre geplante Rehabilitation im Zentrum Igls auf, will zugunsten eines späteren Forschungssemesters in Israel auf den Autokauf verzichten, lernt auf die Biologie-Prüfung und freut sich auf den Besuch ihrer australischen Freundin, mit der sie noch vor Ausbruch der Erkrankung im September zusammen war. Die ersten Rückmeldungen der Verwandten, FreundInnen, älteren und jüngeren Bekannten und HelferInnen für den 22. Juni kommen, die Zukunft zeichnet sich ab. Der Alptraum ist vorderhand vorüber.
Am 27. Juli 2001 wird ein Rezidiv festgestellt, sie reist allein nach Portugal um ihre Geschwister, die sie nie besucht hatten, vor ihrem Tode noch einmal zu sehen. Nach einer mißglückten KM-Transplantation stirbt sie, beim Sterben begleitet von ihrer Mutter, am 27. September 2001 um 18:27 Uhr.